Wann stoppt Deutschland den Kohleabbau?

Wann stoppt Deutschland den Kohleabbau?
"Alles gehört auf den Prüfstand. Es gilt der Grundsatz: im Zweifel für die Sicherheit." Es ist der 14. März 2011, drei Tage nach der Kernschmelze im Atomkraftwerk im japanischen Fukushima, als die deutsche Kanzlerin Angela Merkel die bis heute vielleicht größte Kehrtwende in ihrer Regierungspolitik vollzieht: den Atomausstieg. Ende 2022, also elf Jahre später, werden die letzten drei Atomkraftwerke abgeschaltet, dann ist die Nuklearenergie in Deutschland Geschichte.
Angela Merkel hat für diese Bauchentscheidung damals viel Zuspruch bekommen. Kritiker dagegen monieren noch heute ihre vermeintlich überhastete Politik, ohne Blick auf alle Konsequenzen. Acht Jahre später stehen Deutschland und die Kanzlerin vor einer energiepolitischen Entscheidung mit ähnlicher Tragweite: Wie lange setzt Deutschland noch auf Kohlekraftwerke?
Kohlekommission empfiehlt Ausstieg bis 2038
Die Kohlekommission - mit Vertretern aus Industrie, Wirtschaft und Umweltverbänden - hat im Januar empfohlen, bis 2038 keinen Strom mehr aus Kohle zu erzeugen. In den kommenden 20 Jahren soll Deutschland demnach alle Braun- und Steinkohlekraftwerke abschalten. Nur so kann Deutschland seine Klimaziele erreichen, denen es weit hinterherhinkt. Fünf Monate später hat sich die politische Ausgangslage allerdings stark verändert.
Infografik Nettostromerzeugung aus Kraftwerken DE
Die Grünen haben mit dem Thema Klimaschutz die Europawahlen dominiert, die Proteste der jungen "Fridays For Future"-Bewegung werden immer lauter. Meinungsumfragen zeigen, dass der Umweltschutz für die Deutschen derzeit höchste Priorität hat. Die Forderung vieler, vor allem junger Menschen: Deutschland muss früher raus aus der Kohle.
Klimapolitik der Bundesregierung gut bis mangelhaft
"Deutschland hat viel zu lange gezaudert und zu lange an der Kohle festgehalten", sagt die Energieökonomin Claudia Kemfert. Sie fordert ein rasches Umdenken: "Was Versorger und Politik nicht verstanden haben, ist, dass sich das Zeitfenster des Handelns immer weiter und unwiderruflich schließt. Ein 'Weiter so' können wir uns nur noch maximal sieben Jahre leisten." Ein Festhalten an der Braunkohle verhindere die Energiewende.
DIW Berlin Prof. Dr. Claudia Kemfert (Roland Horn)
Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung: Durch den Kohleausstieg gehen die Lichter nicht aus
Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Sie plädiert entschieden für einen schnelleren Kohleausstieg. Für den Ausbau der erneuerbaren Energien würde sie der Bundesregierung die Note 2, gut, geben: "Aber keine 1, weil der Ausbau in den letzten Jahren massiv gebremst wurde. Und für den nicht existenten Kohleausstieg eine 5." Eine 5 steht für mangelhaft.
Dass die deutsche Wirtschaft massiv unter dem Kohleausstieg leiden wird, wie Kohle-Befürworter vorrechnen, lässt Claudia Kemfert nicht gelten: "Die Kohlewirtschaft hat keine große Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft - anders als andere Bereiche wie beispielsweise der Automobilsektor." Der Strukturwandel würde zudem finanziell begleitet. Ihr Appell: "Ein kluger Kohleausstieg schafft wirtschaftliche Chancen, da in Zukunftsmärkte investiert und die Wirtschaft von unnötigen Umweltkosten und Altlasten befreit wird."
Was passiert, wenn kein Wind weht und keine Sonne scheint?
Thilo Schaefer ist Umweltexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaft in Köln. Er kann die Argumentation gut verstehen: "Ich finde die Forderung nachvollziehbar, jetzt in Deutschland ganz schnell die Kohlekraftwerke abzuschalten, weil auf diese Weise massiv Emissionen schnell reduziert werden könnten." Es gehe beim Kohleausstieg auch längst nicht mehr um das 'Ob‘, sondern um das 'Wie‘ und 'Wann'.
Thilo Schaefer Umweltexperte beim Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW Medien)
Umweltexperte Thilo Schaefer: "Zu wenig darüber geredet, wie eine Zukunft ohne Kohlestrom funktionieren soll"
Doch Schaefer warnt gleichzeitig vor einem überhasteten Ausstieg und damit einhergehenden höheren Strompreisen: "Ich sehe nicht, dass wir schon jetzt in der Lage sind, Strom an den Tagen zu ersetzen, wo uns Wind und Sonne nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen."
Weil es Deutschland aber in der Vergangenheit versäumt habe, in Stromspeicher zu investieren, sehe die Realität an Tagen, da kein Wind weht und keine Sonne scheint, so aus: "Stand jetzt importieren wir dann Strom aus unseren Nachbarländern: Wir bekommen dann Atomstrom aus Frankreich und Belgien und Kohlestrom aus Polen. Das hilft dann zwar unserer nationalen Klimabilanz, aber insgesamt dem Klima natürlich nicht."
Europäisches Handeln gefragt
Deutschland müsse daher europäisch statt national handeln, fordert der Umweltexperte: "Treibhaus-Emissionen wirken nun einmal global. Wir müssen das größer denken!" Schaefers weitere Forderungen: weniger Bürokratie bei den Genehmigungsverfahren für die Windenergie, schnellerer Ausbau der Stromtrassen von Nord nach Süd und die Förderung von Gaskraftwerken als Brückentechnologie.
Infografik Anteil erneuerbare vs. konventionelleEnergiegewinnung 2018 in Deutschland DE
Aber auch ein Umdenken bei den Bürgern müsse her: "Wenn es ganz konkret darum geht, wo steht die nächste Windanlage oder 'werde ich durch eine Stromtrasse unmittelbar betroffen?', dann sieht es plötzlich beim Engagement für den Klimaschutz ganz anders aus."
Tatsächlich gibt es bei vielen Deutschen eine große Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach mehr Klimaschutz einerseits und dem eigenen Handeln auf der anderen Seite: Die wenigsten verzichten auf Flugreisen, verzehren weniger Fleisch oder setzen sich aufs Fahrrad statt ins Auto.
Deutschland droht, den Anschluss zu verlieren
Dies werde von der Politik vorgelebt, kritisiert Carl-Friedrich Schleußner, Wissenschaftler beim Berliner Thinktank "Climate Analytics": "Politisches Verhalten ist in Deutschland einfach hochgradig inkonsequent. Zwischen den Ambitionen, die wir haben, zum Beispiel unsere Verpflichtungen des Pariser Klimaschutzabkommens zu erfüllen, und dem, was wir tatsächlich tun, liegen Welten."
Carl-Friedrich Schleußner Berliner Think Tank Climate Analytics (Privat)
Carl-Friedrich Schleußner: "Braunkohle ist keine Zukunftstechnologie, sondern reine Bestandserhaltung"
Der Umweltexperte kritisiert die "vermanagte Energiewende" und vermisst vor allem, konsequent auf erneuerbare Energien zu setzen. "Wir waren mal Weltmarktführer in Solarkraftgewinnung, das haben wir aufgegeben." Bei der Windenergie drohe nun eine ähnliche Entwicklung: "Aufgrund der immer größeren Schwierigkeiten, insbesondere Offshore-Windanlagen zu bauen, gibt es gerade eine Pleitewelle bei den Betreibern. Wenn wir bei dieser Technologie den Anschluss verlieren, werden das andere machen."
Die Empfehlung der Kohlekommission, erst 2038 das letzte Kohlekraftwerk abzuschalten, sei daher halbherzig: "Das ist ein Signal nach dem Motto: Wir haben es nicht so eilig und wir meinen es mit dem Pariser Klimaschutzabkommen nicht so wirklich ernst." Das Beispiel Großbritannien, das bis 2025 aus der Kohle aussteigt, zeige, dass es auch schneller gehe, sagt Schleußner: "Deutschland wäre mit der Geschwindigkeit, mit der andere Länder bei der Energiewende voranschreiten, heute ganz woanders."
Was macht RWE?
Für Energieunternehmen wie RWE stellt sich nun die Frage: Was tun im Hambacher Forst? Der Konzern hat auf Kohle und sehr wenig auf erneuerbare Energien gesetzt. Der Abbau wurde dem Konzern zunächst bis 2040 genehmigt (2016 von der damaligen rot-grünen Landesregierung), im Oktober 2018 verhängte das Oberverwaltungsgericht Münster einen vorläufigen Rodungsstopp. Nachdem die Kohlekommission den Erhalt des Hambacher Forstes als "wünschenswert" erachtete, versprach RWE auf Bitten der Landesregierung, bis Frühjahr 2020 keine Bäume zu fällen. Und dann? Weiterbaggern, weil es sich nun einmal wirtschaftlich lohnt? Oder aber endgültig die Rodung ad acta legen?
Deutschland RWE Hauptversammlung in Essen (picture-alliance/dpa/C. Seidel)
Rolf Martin Schmitz, Vorstandsvorsitzender von RWE, spricht bei der Hauptversammlung am 3.Mai 2019 in Essen
Carl-Friedrich Schleußner vom Berliner Thinktank "Climate Analytics" meint: "Als Chef eines Unternehmens, das gewinnorientiert ist, kann ich die Rodung vielleicht verstehen, aber als gesellschaftlicher Akteur, der einen wesentlichen Beitrag zur Energiewende leisten soll, ist das unverantwortlich. Diese haben die Energiekonzerne wie auch andere deutsche Großkonzerne einfach über viele Jahre verschlafen und gebremst."
Thilo Schaefer vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln verweist darauf, dass Konzerne wie RWE nach wie vor ihr Geld hauptsächlich mit den großen Kraftwerksmeilern verdienen: "Damit müssen sie sozusagen die Spielräume erwirtschaften, um neue Geschäftsmodelle aufzubauen. Ich muss also als Chef eines solchen Unternehmens zweigleisig fahren: versuchen, möglichst viel Geld mit der herkömmlichen Technologie zu verdienen und gleichzeitig neue Geschäftsmodelle etablieren".
Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, rät der Chefetage von RWE, stattdessen verstärkt in erneuerbare Energien zu investieren: "Vor allem aber würde ich alles versuchen, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und die junge Generation einzubinden statt einzuschüchtern - das sind die Kunden von morgen!"

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