Für immer Flüchtling? Das neue Leben des Syrers Ahmad Sheer

Für immer Flüchtling? Das neue Leben des Syrers Ahmad Sheer
Ahmad Sheer ist Arabischlehrer und Maler. Geboren und aufgewachsen ist er in Aleppo, der zweitgrößten Stadt Syriens und Schauplatz einiger der härtesten Kämpfe im jahrzehntelangen Syrienkrieg. Trotz des Krieges wollte der 40-Jährige seine Heimat nicht verlassen, er wollte in Syrien bleiben - selbst als der Krieg nahe kam und er mit seiner hochschwangeren Frau drei Kilometer laufen musste, um sich in Sicherheit zu bringen. Den Wendepunkt brachte eine Ausweiskontrolle. Er flüchtet aus Syrien 2015 allein. Heute lebt der Syrer mit seiner Familie in Belgien. Ein neues Leben, aber keine neue Heimat. Bleibt das Etikett "Flüchtling" an ihm kleben?

Zuflucht finden: Ahmad Sheer – von Aleppo nach Antwerpen

Der Schmerz und der Schrecken, den Ahmad in Syrien erlebte, sind in seine Kunst eingebrannt. Der 40-jährige Maler wollte sein Land nicht verlassen. Bis er eines Tages vor die Wahl gestellt wurde: zu fliehen oder sich den Kämpfen anzuschließen. Er sagt:

"Das ist das syrische ‘Guernica’. Ich habe es 2017 gemalt. Ich habe das, was Picasso gemalt hat, mit dem verschmolzen, was ich im Krieg in Syrien gefühlt habe. Was Picasso gesehen hat, war wirklich unglaublich - Picasso hatte diese Art zu beobachten, den Schmerz und den Schock auf eine sehr starke Art und Weise zu verinnerlichen."

Eines Tages, bei einer Ausweiskontrolle, fragte ihn ein Soldat nach seiner militärischen Ausbildung. Ahmad spürte, dass er in die Kämpfe hineingezogen werden würde. Er schaffte es, sich der Kontrolle zu entziehen, ging nach Hause und beschloss, dass er nicht Teil des Krieges sein wollte:

"Ich saß in einem Bus, ich war Lehrer, und ein Soldat kam in den Bus und begann, nach Ausweisen zu fragen. Er fragte mich, wie hoch meine militärische Ausbildung im Pflichtdienst sei. Also sagte ich ihm, wo ich eingesetzt war - und ich hatte das Gefühl, dass der Ort, an dem ich diente, und der Standort zu diesem Zeitpunkt Reservisten brauchten. Und ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich nicht Teil des Geschehens sein wollte - des Tötens. Ich war nie auf einer der beiden Seiten. Ich war nicht bereit. Also entschied ich mich, zu gehen, bevor sie mich zur Reserve einberiefen."

Ahmad war Lehrer. Er hatte einen Job, ein Haus und er malte. Nach der Ausweiskontrolle hat er alles verkauft, was Wert hatte, damit er das Land verlassen konnte. Er floh zunächst allein, ließ seine Familie zurück.

Der Syrienkrieg - ein komplexer Konflikt
Es ist der komplexeste Konflikt, der aus dem Arabischen Frühling hervorging. Syrien erlebte externe Akteure als mächtige Feinde, die den Krieg innerhalb der Landesgrenzen anheizte.

"Der Krieg herrschte nicht nur zwischen Syrern - so hat er begonnen. Aber dann trat Russland in den Konflikt ein, um seinen Verbündeten zu verteidigen. Und hat ihn mit seinen Luftwaffen geholfen"

Vom Iran unterstützte Milizen leisteten bereits Bodenunterstützung für Syriens Präsident Bashar Al Assad. Die Opposition rechnete mit finanzieller Unterstützung aus den Golfstaaten. Aber Russland sollte das Kräfteverhältnis verschieben – unwiderruflich. Russlands Militärmission startete im September 2015 - zwei Monate nachdem Ahmad das Land verlassen hatte. Die Bilder und Erinnerungen lassen ihn nicht los:

"Was Sie hier sehen, habe ich erlebt. Als meine Schule bombardiert wurde, die Schule meiner Kindheit, das war so ein Moment. Ich habe viele solche Momente erlebt. Und dieses Bild von (meiner Familie), die flieht... das ist ein Bild, das sich in meinem Kopf eingebrannt hat. Und es ist unmöglich, es wieder auszuradieren oder zu vergessen. Das ist unmöglich."

Die gefährliche Flucht
Ahmads Flucht führte ihn durch die Türkei und durch Griechenland in Richtung Nordeuropa nach Belgien. Er verließ Aleppo 2015. Er erzählt von Momenten, die sich ihm eingebrannt haben:"Als ich auf dem Schlauchboot war, waren dort 40 Menschen. Und viele von ihnen waren Kinder. Ich war mit einem Verwandten zusammen, nur ein Mann. Wir waren zusammen. Und es waren Familien bei uns. Wir kamen von Izmir weg - das ist etwas, was ich nicht vergessen kann: von Izmir steckt man uns in einen Lastwagen, einen großen Lastwagen, wo sie uns wegen der Polizei zudecken. Und in diesen Lkw haben sie 50 Leute gepackt, sodass es keinen Platz gab, um sich zu bewegen, wir waren alle übereinander. Wir fuhren von 12 Uhr nachts bis 5 oder 6 Uhr morgens. Ich weiß die Gegend nicht mehr. Ich glaube, es war südlich von Izmir. Und wir kamen dort an, legten das Schlauchboot aus und fingen an zu pumpen. Und da war ein Typ mit einem Gewehr, der alles koordinierte, und wenn jemand aufgeben wollte, wurde er gezwungen weiterzumachen. Wir fuhren 3 Stunden mit dem Boot, wir sahen keine Inseln oder Land. Und dann sahen wir ein Boot, von dem wir dachten, es sei die Küstenwache. Anscheinend war es eine private Firma, die mit der Küstenwache zusammenarbeitete. Sie kamen zu uns und forderten uns auf, an Bord zu kommen. Aber niemand wollte das. Und die Frauen fingen an, auf Arabisch zu schreien, aber die Leute konnten sie nicht verstehen. Aber sie wussten, was sie sagten und es war ihnen egal. Sie versuchten mehrmals, uns auf das Boot zu bekommen, aber als sie sahen, dass wir nicht aufgaben, fing ihr Boot an, unseres zu rammen. Nach 4 oder 5 Versuchen durchlöcherten sie unser Boot. Unser Boot begann zu sinken. In diesem Moment haben die Kinder... (er hält inne und schaut verzweifelt)."

Politisches Asyl in Belgien

In Antwerpen bekam er eine neue Chance und einen neuen Titel: Flüchtling. Der Syrer blickt reflektiert auf seine Situation:

_"Es ist eine neue Periode in meinem Leben. Eine neue Periode, die weder negativ noch positiv ist, aber es ist eine neue Zeit, von der ich sagen kann, dass ich heimatlos bin. Oder, dass ich nach einem neuen Land für meine Familie und mich suche. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, ob das Wort Flüchtling an mir hängen bleibt. Ich meine, selbst wenn ich die Staatsbürgerschaft eines europäischen Landes  bekomme, werde ich dann ein Flüchtling bleiben? Oder werde ich ein Bürger werden? Im Innern. Ich weiß nicht, ob das eine kurze Periode ist. Oder ob sie von Dauer sein wird."

Ahmad lebt in Belgien, wo ihm politisches Asyl gewährt wurde. Er zieht dort seine zwei Kinder auf. Spricht perfekt Holländisch, hat sein Englisch vergessen. Er ist auf der Suche nach einer neuen Heimat und weiß nicht, ob das Etikett "Flüchtling" an ihm kleben bleibt.


euronews.com​​​

Комментарии (0)

Оставить комментарий