„Putins Murks“? Galle deutscher Medien und fünf Fragen zum ersten russischen Corona-Impfstoff
Wenn ein Land wie Russland den ersten Corona-Impfstoff ankündigt, bevor die letzte Prüfungsphase abgeschlossen ist, kommen bei einem die Zweifel wie gerufen - und zwar berechtigt. Doch die eindeutig harte Kritik in der Politik und den Medien an der russischen Entwicklung zeugt wohl von einigen wichtigen Missverständnissen.
„Die Welt reibt sich die Augen, Wladimir Putins Corona-Impfstoff ist offenbar schon zugelassen“, schrieb etwa der FAZ-Autor Joachim Müller-Jung über Sputnik V, „den Impfstoff-Murks aus Moskau“. Im Kreml werde man den Sputnik-Moment der Medizingeschichte, „ein gigantisches Menschenexperiment“, sicher auskosten. Zulassung aber sei der falsche Begriff - denn Putin habe das Ganze bestimmt, habe es so gewollt, und so sei es gewesen. Die Massenproduktion und Massenanwendung des Impfstoffs soll laut der FAZ - und vielen anderen Medien - parallel zur Testphase drei mit Tausend Probanden anlaufen. Stimmt das?
Die ersten Packungen von Heilmittelpräparaten des Impfstoffes kommen laut dem Gesundheitsminister Michail Muraschko zwar schon „in den nächsten zwei Wochen“, in den Massenkonsum, aber der Impfstoff soll nach Angaben des Arzneimittelregisters des Gesundheitsministeriums erst am 1. Januar 2021 gebracht werden. Aus einer Mitteilung der „Binnopharm“-Muttergesellschaft „AFK Sistema“ geht weiter hervor, dass eine Massenproduktion des Impfstoffes erst Ende 2020 geplant werde. Also wären „mehrere 100 Millionen Menschen, wenn nicht Milliarden“, wie der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn befürchtete, von der Impfung erstmal nicht betroffen.Der Virologe des Gamaleja-Zentrums, Anatoli Altstein, bekräftigte gegenüber der Nachrichtenagentur RIA Novosti die vorläufig bestätigte Wirksamkeit und Sicherheit des russischen Impfstoffs. Eine dritte Phase sei aber erforderlich, um dies zu belegen, bestätigte der Experte. Sie solle voraussichtlich eben Ende des Jahres abgeschlossen sein. Der Kritik der westlichen Kollegen trat Altstein entschieden entgegen, sie hätten Unrecht.
„Der Impfstoff ist nicht schlechter als ähnliche Impfstoffe, die sie herstellen, das ist bereits sicher. Sie können nicht den Impfstoff kritisieren, sie können erst kritisieren, dass er vor der dritten Phase registriert wurde. Dies ist eine solche politische Aktion, eine Werbung. Dies ist sehr hilfreich bei der Förderung dieses Impfstoffs“, sagte Altstein.
Freiwillig oder durch Zwang?
„Es ist unverantwortlich, ganze Bevölkerungsgruppen bereits in diesem Stadium der Entwicklung zu impfen“, kritisierte der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, in der „Rheinischen Post“. Von welchen „ganzen Bevölkerungsgruppen“ mag die Rede sein?
Der russische Gesundheitsminister Muraschko hat zuvor vorgeschlagen, erst medizinische Mitarbeiter und Lehrer zu impfen. Auch die stellvertretende Ministerpräsidentin Tatjana Golikowa sprach von medizinischen Mitarbeitern. Zugleich versicherte Muraschko, dass die Impfung für alle, auch für die Mediziner, freiwillig sein werde. Gleichzeitig betonte er, dass die Gesundheit derjenigen, die mit dem neuen Impfstoff geimpft werden, mithilfe eines speziellen Informationssystems sowie einer derzeit entwickelten App gecheckt werden müsse. Das würde auch den streng kontrollierten Bedingungen entsprechen, über die der Vertreter der russischen Aufsichtsbehörde für Gesundheitswesen (Roszdravnadzor), Sergej Glagolew, zuvor gesprochen hatte.
Für alle verfügbar?
Freiwillig wurde auch die Teilnahme der Probanden an den präklinischen Studien am Gamaleja-Zentrum und am 48. Forschungsinstitut des Verteidigungsministeriums sowie an den klinischen Studien an der Sechenov-Universität und der Filiale des Militärischen Burdenko-Krankenhauses. Den Zwischenberichten der Forscher zufolge haben alle 38 Freiwilligen zwischen 18 und 60 Jahre alt hohe Antikörpertiter gegen SARS-CoV-2 entwickelt, ohne schwerwiegende Komplikationen.
Einige unerwünschte Nebenwirkungen wie Fieber oder Kopfschmerzen wurden aber in den Zwischenberichten auch nach 42 Tagen noch registriert. Aufgrund der begrenzten Anzahl von Teilnehmern an der Studie sei es nicht möglich, die Inzidenz von Nebenwirkungen genauer zu bestimmen, gab das Gamaleja-Zentrum zu. Auch geht aus den medizinischen Unterlagen hervor, dass der Impfstoff eine Altersbegrenzung von 18-60 Jahren habe. Dies sei wiederum auf die Enge der Forschung zurückzuführen. Der Direktor des Gamaleja-Instituts, Alexander Ginzburg, bekräftigte noch Anfang August gegenüber Journalisten, dass der Impfstoff für Kinder zunächst nicht verfügbar sein werde. Gemäß dem Gesetz müsse das Medikament zunächst einer vollständigen Phase an Erwachsenen unterzogen werden.
Was ist die Vektor-Methode?
Während fast die ganze Welt einschließlich Deutschlands an einem mRNA-Impfstoff arbeitet, ist „Sputnik V“ durch eine Vektor-Methode entstanden. Die Impfung mit einer intramuskulären Lösung sollte dann in zwei Schritten erfolgen: erstens - mit Komponente I, nach drei Wochen - mit Komponente II. Die gleiche Methode hatten die Forscher des Gamaleja-Zentrums früher bei der Entwicklung der Impfstoffe gegen Ebola und MERS-CoV verwendet. Laut dem stellvertretenden Chefarzt des Krankenhauses Nr. 52 in Moskau und Medizinprofessor an der Lomonossow-Universität Moskau sieht sie folgendermaßen aus: „Auf einem für Menschen harmlosen Adenovirus wird – ähnlich wie auf eine Trägerrakete – eine ‚Orbitalstation‘ angebracht – also ein Stück Coronavirus. Und es wird in den menschlichen Körper injiziert.“ Daraufhin entstehe eine Immunabwehr – sowohl gegen die „Trägerrakete“ als auch gegen die „Orbitalstation“. Um den Erfolg zu besiegeln, werde drei Wochen später die gleiche Orbitalstation mit einer anderen Trägerrakete gestartet – also auf einem anderen Adenovirus. Als Folge entstehe im Körper eine zuverlässige und nachhaltige Immunabwehr gegen das Coronavirus.
Vorerst keine Massenexporte
Mittlerweile haben Brasilien, die Philippinen und die Vereinigten Arabischen Emirate Interesse an der russischen Entwicklung bekundet. „Das rücksichtslose, intransparente Vorgehen lässt Schlimmes befürchten: Wird die Welt je über die Sicherheit und Wirksamkeit der russischen Vakzine vollständig informiert?“, schrieb der FAZ-Mann Müller-Jung jedoch nur wenige Stunden nach der Registrierung des Vakzins, Putins Manöver könne der Impfstoffentwicklung weltweit schaden. Aber inwiefern? Sowohl der Gesundheitsminister Muraschko als auch der Generaldirektor des Russischen Direktinvestitionsfonds Kirill Dmitrijew versichterten in einer Pressekonferenz am Dienstag, die ersten Produktionen des Impfstoffes werden sich auf den heimischen Markt konzentrieren, da „wir die Bedürfnisse unserer Bürger decken müssen“. Der Bedarf innerhalb des Landes werde es „nicht bald“ ermöglichen, den Impfstoff massiv zu exportieren.
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