„Ostdeutsche müssen mehr Rechte bekommen“: Expertin zu Aufgabe von Ostbeauftragtem

„Ostdeutsche müssen mehr Rechte bekommen“: Expertin zu Aufgabe von Ostbeauftragtem
Der Ostbeauftragte des Bundes Marco Wanderwitz hat festgestellt, dass viele Top-Jobs im Osten von Westdeutschen besetzt sind. Dazu hat Sputnik die Soziologin Yana Milev befragt. Sie sieht einen heftigen Kulturkonflikt in Ost und West als Folge von 30 Jahren Ungleichbehandlung, der auch das Wahlverhalten tangiert: Es bedarf Heilung sozialer Wunden.
Frau Milev, sind denn so viele Westdeutsche im Osten in führenden Positionen?
Es ist statistisch erwiesen, dass kaum Ostdeutsche in gesamtdeutschen Führungspositionen sind. Die letzte repräsentative Studie ist aus dem Jahr 2016. Es heißt, sie habe ein „unverfälschtes Design“. Das bedeutet, dass für Hochrechnungen keine Westdeutschen, die in den Neuländern leben - und sich übrigens selbst inzwischen auch häufig als „Ostdeutsche“ bezeichnen - mitberücksichtigt wurden. Die Studie zeigte, dass lediglich 1,7% Ostdeutsche mit DDR-Sozialisationshintergrund in gesamtdeutschen Führungspositionen sind. 
Warum eigentlich? War das gerechtfertigt in den letzten 30 Jahren?
Eindeutig: Nein. Die sogenannte „Wiedervereinigung“ war eine Einbahnstraße. Die DDR hatte mit dem Beitritt ihre sogenannten Subjektrechte aufgegeben und fiel an die BRD. Es wurden Gesetzeserlasse im Beitrittsgebiet implementiert, die auch schon im Deutschen Reich Rechtsgrundlegungen waren. Das wären das Bürgerlichen Gesetzbuch, das Handelsgesetzbuch, das Strafgesetzbuch. Mit dieser Gesetzesübertragung war die Mehrheit der „Neubürger“ von einem Tag auf den anderen juristisch vogelfrei, denn kaum jemand kannte sich in diesem deutschen Recht und Gesetz aus. Zudem bekamen die „Neubürger“ keine Teilhabe am DDR-Vermögen, so wie das noch die von Hans Modrow gegründete Treuhandanstalt vorsah. So war die Mehrheit der Neubürger über viele Jahre mit extremen Überlebens- und Anpassungsleistungen herausgefordert.Millionen verloren ihre Arbeit, wurden arbeitslos und konnten nicht klagen, weil ihnen die Finanzmittel fehlten. Es setzte eine Spirale aus Verlust, Verarmung und Vernichtung von Aufstiegschancen ein – bei mehreren Millionen Menschen. Es begann eine rechtlich angelegte Ungleichbehandlung der Neubürger vor dem Gesetz. Im Einigungsvertrag stehen etwa zehn Artikel für die Abwicklung von Berufsbranchen, einschließlich Wissenschaft und Forschung, Kultur und Medien, Bildung und so weiter. Es wurden allein 220.000 Wissenschaftler, Forscher, wissenschaftliche Mitarbeiter, Akademiker, darunter Ärzte und Ingenieure regelrecht „freigesetzt“. Das war eine Kulturkatastrophe.
Warum soll das jetzt nicht mehr „in Ordnung“ sein? Gibt es bereits eine Protestbewegung im Osten?

Ost und West sind in eine extreme Schieflage geraten. Die Mitte- und Koalitionspolitik von Union und SPD hat keine Politik für Ostdeutschland gemacht, sondern dagegen. Eine Mehrheit DDR-sozialisierter Ostdeutscher fühlt sich mit der „Wiedervereinigung“ um ihr Leben betrogen. Viele haben sogar weniger als vorher. Es ist eine neue Klasse entstanden - die Klasse der Ostdeutschen, die sich als Menschen zweiter Klasse fühlen. Die Ost-West-Ungleichheit ist inzwischen in Dutzenden Studien belegt, das ist kein Placebo-Effekt oder ein Gejammer, wie es mit kulturkolonialer Geste oft abgetan wird. Viele Menschen sind krank geworden und hatten von Anfang an keine Chance - weder zum Reisen, noch zum Reichwerden. Das ist schon sehr lange nicht in Ordnung, nicht erst seit gestern.Da sich aber keine politische Kraft um die Behebung der vereinigungsbedingten Missstände im Osten bemühte, die Medien ihren Teil dazu beitrugen, falsch zu berichten oder gar nicht zu berichten - schließlich den „Ossis“ den Schwarzen Peter zuschoben, reagieren die meisten zunehmend mit Ablehnung gegenüber Politik, Regierungsparteien, Medien, Parlamentarischer Demokratie. Damit kann inzwischen niemand mehr punkten. Sie wählen AfD - aus Protest und auch als Identifikationskraft. Es fällt ja auf, dass mehrere Millionen Ostdeutsche die AfD wählen, also verbünden sie sich in einer Identifikationsfigur des Dagegen-Seins. Das nennt man in der Soziologie „Segregation“. Das ist sehr ernst zu nehmen. Denn es ist das Resultat aus 30 Jahren Ungleichbehandlung.
Das größte Unrecht was Ostdeutschen passierte ist, dass ihnen die Deutungsmacht über ihre eigene Geschichte, ihre Biografien, ihre Herkunft brutal entzogen wurde. Die Westmedien und Regierungsbehörden bestimmen, wie Erinnerungskultur aussieht und wie nicht. Daraus ist ein heftiger Kulturkonflikt entstanden. Das lässt sich inzwischen niemand mehr bieten.
Wie bewerten Sie, dass ausgerechnet dem neuen Ostbeauftragten und auch erst 30 Jahre nach der Wende auffällt, dass zu wenig Ostdeutsche in Führungspositionen vertreten sind?

Es ist eigentlich das Kerngeschäft eines Ostbeauftragten, diese Missstände zu benennen und vor allem zu beheben. Er ist sicher nicht der erste Ostbeauftragte, der den Ost-West-Kulturkonflikt thematisiert. Die einstige Ostbeauftragte Iris Gleicke hat da Pionierarbeit geleistet. Sie hat etliche Studien in Auftrag gegeben wie die zur Treuhand, aber auch Studien promotet, wie die „Elitestudie“ und die daran anschließende Veranstaltung im Bundestag zum Thema „Ostdeutsche Eliten“. Gleicke hat Studien über die „Schrumpfung“ der Regionen, über Deindustrialisierung und Desurbanisierung oder über den urbanen Rückbau gefördert. Das war wirklich einmalig. Aus diesen Studien beziehen viele heute ihre Informationen. Es sollte noch viel mehr in dieser Hinsicht getan werden.Die meisten Ostdeutschen wissen gar nicht, was während der „Wiedervereinigung“ wirklich passiert ist, denn die Medien haben über Jahre die „Einheit“ anderes bewertet, als die Menschen es selbst erlebten. Es gibt einen riesengroßen Bedarf an Information. Und es gibt Bedarf an Anerkennung der misslichen Lage, in der die Mehrheit der Ostdeutschen sich befindet. Es wäre gut, wenn jemand aus der Regierung die Ostdeutschen in ihrer Wahrnehmung von sich selbst unterstützen würde. Wenn mal einer sagt, dass die Anpassung an den Westen eine unglaublich kollektive Leistung war, oder wenn mal jemand sagen würde, dass ihnen mit der Wende viel Unrecht passiert ist. Wenn Marco Wanderwitz als neuer Ostbeauftragter hier einsteigen würde, wäre das für eine Art „Heilung“ der sozialen Wunden zuträglich. Das hätte bestimmt positive soziale Effekte.
Sollte das die Aufgabe des neuen Ostbeauftragten sein, sich mit so einer Thematik wie den Umstand, dass es mehr Westdeutsche in ostdeutschen Führungspositionen gibt, einzumischen? Er will wohl keine Quote, was die Einstellungsmodalitäten in Top-Positionen – wir sprechen vom Öffentlichen Dienst – anbetrifft. Wie sehen Sie das?
Es ist einfach richtig, die Realität im Osten zu akzeptieren und auch, dass hier bei einer Zweidrittelmehrheit der Neubürger vereinigungsbedingt Ungleichheit produziert wurde. Wer sonst, wenn nicht der Ostbeauftragte, sollte sich denn mit diesem Kulturkonflikt befassen und ihn konstruktiv angehen?
Eine Quote würde ich nicht begrüßen: Quotenpersonen müssen eine Haltung übernehmen und diese in Institutionen politisch transportieren, sonst gelten sie als politisch nicht korrekt. Es gibt viele Ostdeutsche, die sehr kompetent sind, aber eine eigene Haltung haben, die sich vom „Habitus“ Westdeutscher unterscheidet. Sie möchten ihre Identität nicht aufgeben, oder sich gezwungen fühlen, diese aufzugeben. Das ist für viele ein hoher Preis.

Ich finde es sollte gesetzlich besser geregelt werden, dass Ostdeutsche in Institutionen und auf Märkten nicht diskriminiert werden. Sie müssen mehr Rechte bekommen, etwa durch das Antidiskriminierungsgesetz. Es müsste ganz andere Auflagen für die Gesellschaft an sich geben, so dass Ostdeutsche, also DDR-Sozialisierte, juristische und politische Gestaltungsräume haben. Viele würden eine Basisdemokratie begrüßen. Die Möglichkeit auf Volksabstimmung. Das Ernstgenommen-Werden als Teilbevölkerung, die anders „kulturiert“, also kulturell sozialisiert ist, wäre doch im Sinne der Grundrechte und der Menschenrechte. Davon sind wir noch weit entfernt. Wir danken Ihnen für das Interview!

Zur Person

Yana Milev gründete den Think Tank AGIO (Gesellschaftsanalyse + Politische Bildung). Die promovierte Dozentin für Kultursoziologie wurde in Leipzig in der damaligen DDR geboren. Nach dem Studium der Kunst und künstlerischer Karriere betrieb sie ethnografische Studien in Japan. In Folge absolvierte sie ein Doktoratsstudium für Philosophie an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. 2008 promovierte sie zu den Themen des Krieges und des Ausnahmezustands im 21. Jahrhundert. Nach einer Zeit als Research Associate am Seminar für Soziologie der Universität St. Gallen, erfolgte ihre Habilitation und ihre Ernennung zur Privatdozentin für Kultursoziologie der „School of Humanities and Social Sciences“ daselbst. Seit 2017 ist die Mittfünfzigerin Leiterin des Projektes „Entkoppelte Gesellschaft“, in der sie sich mit der Wendezeit beschäftigt. Ihr neues Buch „Treuhandtrauma“ ist für März 2020 angekündigt.



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