Sensation oder Tabubruch: AfD ist Königsmacher in Thüringen

Sensation oder Tabubruch: AfD ist Königsmacher in Thüringen
Es war ein politisches Pokerspiel, geprägt von Hinterzimmer-Deals: Die 5-Prozent-Partei FDP stellt in Thüringen den neuen Ministerpräsidenten, Linkepolitiker Bodo Ramelow wurde vom Parlament nicht wiedergewählt, und das alles Dank eines ausgeklügelten Schachzugs der AfD. Dem Freistaat stehen nun schwere Zeiten bevor, ebenso wie den Bundesparteien.
Das Ergebnis der Ministerpräsidentenwahl im Erfurter Landtag ist eine große Überraschung – zumindest für Journalisten und wohl auch für den Thüringer Wähler. Als das Ergebnis des dritten Wahlgangs am Mittwochnachmittag verkündet wird, bleibt es in den meisten Reihen der Abgeordneten aber erstaunlich ruhig. Hatten FDP, CDU und AfD bereits im Vorfeld einen Deal untereinander geschlossen? Das erklärte Ziel, die Wiederwahl des linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zu verhindern, haben sie jedenfalls erreicht.

Doch zunächst zu den Fakten:

In den ersten beiden Wahlgängen hatte der bisherige Ministerpräsident Bodo Ramelow zunächst keine absolute Mehrheit bekommen. Damit war aber zu rechnen, denn sein rot-rot-grünes Bündnis hat im Parlament weniger als die Hälfte der Sitze. Die AfD hatte in diesen beiden Wahlgängen wiederum einen eigenen Kandidaten aufgestellt, den parteilosen Lokalpolitiker Christoph Kindervater. Auch er erhielt dort keine absolute Mehrheit, viele Abgeordnete enthielten sich. Das gleiche Bild im zweiten Wahlgang.
Im dritten Wahlgang kandidierte dann zusätzlich der FDP-Landesvorsitzende Thomas Kemmerich. Der Vorwand: Er wolle weder einem extrem linken noch einen extrem rechten Ministerpräsidenten ins Amt verhelfen. Diese Chance nutzte die AfD-Fraktion: Sie ließ bei der geheimen Abstimmung ihren eigenen Kandidaten fallen und wählte geschlossen den FDP-Politiker. Das Ergebnis: Ramelow erhielt 44 Stimmen, Kemmerich 45, es gab eine Enthaltung. Damit wurde Thomas Kemmerich mit den Stimmen von FDP, CDU und AfD zum neuen Ministerpräsidenten gewählt und sogleich vereidigt.

Stillstand? Linksruck? Rechtsruck?

Doch was bedeutet das nun für die künftige Regierungsarbeit in Thüringen? Vermutlich nichts Gutes. Kemmerich wird versuchen, eine Minderheitsregierung zusammen mit der CDU anzuführen. Die AfD wollen weder er noch CDU-Landeschef Mike Mohring in eine Koalition mit einbinden. SPD und Grüne sowie selbstverständlich die Linke wollen eine Regierung Kemmerich aber ebenfalls nicht unterstützen, da diese nur unter Schützenhilfe der AfD zustande gekommen ist. Wie soll also künftig eine Mehrheit für Gesetzesvorhaben und Beschlüsse im Landtag gefunden werden?
In den Sozialen Medien taucht da ein Zitat von FDP-Chef Christian Lindner wieder auf, das er 2017 nach den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen gegenüber der Presse erklärt hatte:
„Es ist besser, nicht zu regieren als falsch zu regieren."
Genau danach sieht es aber in Thüringen nun aus. Die künftige Regierung wird die Wahl haben, entweder verstärkt mit der AfD zusammenzuarbeiten, oder für mögliche Stimmen bei SPD und Grünen nach links zu rücken. Beides dürfte zu politischem Schaden führen und beim klassischen schwarz-gelben Wähler für Verdruss sorgen.

Auch innerhalb der Bundes-FDP ist das Bild zerrissen. Für den stellvertretenden FDP-Bundesvorsitzenden Wolfgang Kubicki ist das Abstimmungsergebnis in Thüringen „ein großartiger Erfolg“. Auf Twitter schreibt er, ein Kandidat der demokratischen Mitte habe gesiegt. Die FDP-Bundestagsabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann kann dem Ergebnis jedoch nicht viel Positives abgewinnen: „Ich schätze Thomas Kemmerich persönlich. Ich verstehe seinen Wunsch, Ministerpräsident zu werden. Sich aber von jemandem wie Höcke wählen zu lassen, ist unter Demokraten inakzeptabel & unerträglich. Es ist daher ein schlechter Tag für mich als Liberale“, schreibt sie. Christian Linder wiederum unterstützt den Kurs des neu gewählten Ministerpräsidenten. In einem offiziellen Statement warb er dafür, eine Minderheitsregierung der „Mitte-Parteien“ anzustreben:
„Wir appellieren an Union, SPD und Grüne, das Gesprächsangebot der FDP anzunehmen.“
Sollten sich diese Parteien „einer Kooperation fundamental verweigern“, würden baldige Neuwahlen nötig. Die Unterstützung der AfD für Kemmerich sei „überraschend“ gewesen, so Lindner.
Innerhalb der Berliner GroKo brodelt es derweil. Vizekanzler Olaf Scholz erklärte, die Geschehnisse in Thüringen seien ein Tabubruch in der Geschichte der politischen Demokratie in der Bundesrepublik. Das habe Auswirkungen weit über Thüringen hinaus:
„Es stellen sich für uns sehr ernste Fragen an die Spitze der Bundes-CDU, auf die wir schnelle Antworten verlangen. Was in Erfurt passiert ist, war kein Zufall, sondern eine abgekartete Sache.“
Ähnlich äußerten sich die neuen SPD-Parteichefs. Norbert Walter-Borjans sieht ebenfalls einen „unverzeihlichen Dammbruch“ in Thüringen, ausgelöst von CDU und FDP:
„Dass die ‚Liberalen‘ den Strohmann für den Griff der Rechtsextremisten zur Macht geben, ist ein Skandal erster Güte. Da kann sich niemand in den Berliner Parteizentralen wegschleichen!“
Und Co-Vorsitzende Saskia Esken ergänzte, die Wahl des Ministerpräsidenten sei ein „abgekartetes Spiel“ gewesen und müsse korrigiert werden. Dafür würden auch die Bundesvorsitzenden Kramp-Karrenbauer und Lindner die Verantwortung tragen.

Die AfD selbst feiert ihren Schachzug und das Ergebnis der Wahl. An der AfD führe kein Weg mehr vorbei, schrieb die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel auf Twitter. Co-Fraktionschef Alexander Gauland erklärte:
„Das Ausgrenzen der AfD funktioniert nicht.“
Die AfD wünsche Kemmerich „eine glückliche Hand“, so Gauland. Gegenüber der Presse erklärte er, es sei vorher nicht damit zu rechnen gewesen, dass die FDP plötzlich einen eigenen Kandidaten im dritten Wahlgang aufstellt. Die AfD habe darauf dann lediglich spontan reagiert. Dagegen spricht, dass Kemmerich gegenüber Medien bereits Anfang der Woche seine Kandidatur angekündigt hatte.

Frust, Schock, Wut …

Und die Linke? Der Schock in der Thüringer Linksfraktion sitzt tief. Die Linke-Landesvorsitzende Susanne Henning machte Thomas Kemmerich ihre Haltung zu dessen Coup deutlich: Anstatt ihm zu gratulieren, warf sie ihm einen Blumenstrauß vor die Füße. Ramelow selbst hatte da schon den Saal verlassen. Derweil beklagte Ex-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht auf Facebook, CDU und FDP in Thüringen machten gemeinsame Sache mit „AfD-Nazi Höcke“, um Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten zu verhindern:
„Der Wählerwille wird missachtet und ein Vertreter der kleinsten Partei Ministerpräsident, die es mit ein paar Tausend Briefwahlstimmen gerade so ins Parlament geschafft hatte. Ein trauriger Tag für die Demokratie!“
Linke-Chef Bernd Riexinger erklärte – wie schon mehrere Politiker vor ihm - das Ergebnis sei „ein Dammbruch“. Die Wahl habe gezeigt, dass CDU und FDP den Wählerauftrag nicht verstanden hätten. Er rechne mit Neuwahlen.

Doch vorerst ist Thomas Kemmerich neuer Ministerpräsident in Thüringen. Der 54-Jährige ist nach 1953 erst der zweite FDP-Ministerpräsident in der Geschichte der Bundesrepublik. Der gelernte Jurist und gebürtige Aachener ist seit 2015 Landesvorsitzender der Thüringer FDP. Innerhalb seiner Fraktion nennen sie ihn gerne „Cowboy“, was mit den Cowboystiefeln zu tun hat, die Kemmerich zum Markenzeichen erhoben hat. Der Unternehmer warb stets mit Wirtschaftskompetenz – er ist seit 2011 auch Bundesvorsitzender der Vereinigung „Liberaler Mittelstand“. Der sechsfache Vater griff sich außerdem bereits zur Landtagswahl die Bildungspolitik als Kernthema heraus.

Ein ereignisreicher Tag geht zu Ende …

Nach Kemmerichs Wahl erklärte dieser, es habe keine Absprache oder Kooperation mit der AfD gegeben und werde  es auch nicht geben. Kurz danach wurde die Plenarsitzung mit den Stimmen von FDP, CDU und AfD vertagt. Vor dem Erfurter Landtag versammelten sich spontan einige hundert Menschen zu einer Demonstration gegen den neuen Ministerpräsidenten. Derweil mehren sich gegen Abend immer mehr Stimmen im politischen Berlin, die Misere mit Neuwahlen zu beenden, inklusive CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak und CSU-Chef Markus Söder. Ist die Amtszeit von Kemmerich also schneller beendet, als von dem frisch gebackenen FDP-Landesvater erhofft? Ein Machtkampf zwischen Erfurt und Berlin ist entbrannt, die kommenden Tage bleiben also spannend – nicht nur im Freistaat Thüringen.


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